DER SPIEGEL: Der unaufhaltsame Niedergang der Billigkrankenkassen (Sonstige Themen)
Viele gute Nachrichten sind es nicht, die der Kanzler in diesen Tagen verkünden kann - und so bemüht er inzwischen selbst die bescheidensten, fast schon unscheinbaren Fortschritte, um das Gelingen seiner Reformpolitik zu belegen.
"Die Beiträge zur Krankenversicherung werden noch im Laufe dieses Jahres sinken", versprach Gerhard Schröder voller Vorfreude in der Regierungserklärung zum ersten Jahrestag seines Reformvorhabens: "Das sind die hier und heute messbaren Erfolge der Agenda 2010."
Seiner Gesundheitsministerin blieb es vorbehalten, diese Errungenschaft der rotgrünen Modernisierer im Detail zu verkaufen. Ja, der durchschnittliche Beitragssatz sei zurückgegangen, gab Ulla Schmidt in der vergangenen Woche zu Protokoll. Ja, er sei sogar schon zum 1. Januar gesunken, und - ja - er werde weiter sinken.
Die Botschaft der notorisch frohgemuten Genossin aus Aachen war klar: Der Ärger mit der Gesundheitsreform, die öffentliche Erregung um Praxisgebühren, Leistungskürzungen und Zuzahlungen für Pillen oder Krankenhausaufenthalte haben sich gelohnt. Das, was erreicht werden sollte, ist eingetreten: Die Finanzierung des Systems ist gewährleistet, die Kostendämpfung funktioniert, die arbeitsplatzvernichtenden Lohnnebenkosten sind unter Kontrolle, die Beiträge gesenkt.
Die schöne Meldung unterfütterte die Politikerin mit neuesten Schätzzahlen. Danach sank der durchschnittliche Beitragssatz von 14,32 auf 14,20 Prozent des Bruttolohns - um magere 0,12 Prozentpunkte also. Die Menschen in einem Haushalt mit 3000 Euro Monatseinkommen müssen danach 1,80 Euro weniger an ihre Kasse zahlen als vor der Reform.
Und auch diese Dividende ist nur möglich, weil die angeschlagene Ministerin um jeden Preis einen Erfolg nachweisen muss. Dabei weiß sie genau, dass die meisten gesetzlichen Krankenkassen schon seit Jahren mit den Beitragsgeldern ihrer Mitglieder nicht auskommen und Monat für Monat, Quartal für Quartal Millionenverluste erwirtschaften.
Daran haben auch die drastischen Einsparungen durch die Gesundheitsreform kaum etwas geändert.
Nach internen Berechnungen der Kassen ist das Minus mittlerweile auf gigantische 14,4 Milliarden Euro angeschwollen. Wegen der schlechten Konjunktur hat sich die Finanzlage der Versicherer seit Ulla Schmidts Amtsantritt im Januar 2001 rapide verschlechtert.
Sechs Milliarden Euro müssten die Kassen für laufende Ausgaben vorhalten, doch das Geld ist längst verschwunden. Drei Milliarden schreiben ihre Satzungen als Rücklage vor, eine Summe, die ebenfalls aufgebraucht ist. Zu diesem Minus von neun Milliarden kommen die Schulden, die die Kassen aufnehmen mussten - exakt 5 589 350 107,23 Euro.
Besonders dramatisch stellt sich die Lage vieler Betriebskrankenkassen (BKK) dar. Auf jedem der über zehn Millionen BKK-Mitglieder lasten rechnerisch 190 Euro Schulden. Aber auch Angestellten-Ersatzkassen wie DAK und Barmer, die vor allem Besserverdiener zu ihren Kunden zählen, kommen inzwischen auf eine Pro-Kopf-Verschuldung von mehr als 90 Euro.
Und die Versicherungen tun alles, um ihre katastrophalen Bilanzen zu verschleiern. Transparenz ist ein Fremdwort bei den öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, in deren publizierten Zahlen die Verbindlichkeiten systematisch verschwiegen werden.
Ginge es nach dem Haushaltsrecht, dürften sie allenfalls einen Bank-Dispo in Anspruch nehmen - als so genannten Kassenverstärkungskredit, um kurzfristige Liquiditätsengpässe zu überbrücken. Spätestens am Jahresende muss das Konto wieder ausgeglichen sein. Unmissverständlich weist die zuständige Aufsichtsbehörde, das Bundesversicherungsamt, auf die Rechtslage hin: "Krankenkassen dürfen keine Kredite aufnehmen."
Das hat deren Manager nicht davon abgehalten, regelmäßig mehr auszugeben, als sie von ihren Mitgliedern einnahmen - in der vagen Hoffnung, die Konjunktur werde bald anspringen und damit wieder mehr Beiträge auf die Konten spülen. Die Gesundheitsministerin hatte sie dabei noch bestärkt. Ulla Schmidt forderte im "Beitragssatzsicherungsgesetz" die Kassen auf, ihre längst nicht mehr kostendeckenden Sätze stabil zu halten - obwohl etliche Experten vor einer Schuldenfalle warnten.
Bis zu 500 Millionen Euro zahlen die Kassen mittlerweile pro Jahr allein für Zins und Zinseszins; inzwischen droht die erste Pleite. Die Betriebskrankenkasse für Heilberufe in Düsseldorf, die vor allem bei Arzthelferinnen und Medizinern beliebt ist, steht vor der Zahlungsunfähigkeit. Jahrelang hatte sie Ärzten großzügige Honorare zugestanden und gleichzeitig mit Niedrigbeitragssätzen fast eine halbe Million Kunden für sich geworben. "Es gibt eben Kassen", lobte sich der Versicherungschef Hansjörg Schulten damals, "die es besser können als die Dinosaurier der alten Zeit."
In Wahrheit finanzierte der Manager sein Unternehmen weitgehend auf Pump. Insgesamt 300 Millionen Euro schuldet die Kasse den Banken, davon allein 200 Millionen der Apotheker- und Ärztebank, die dem Unternehmen schon bei seiner Gründung 1996 unter die Arme griff. Erst als die Trickserei im Februar vergangenen Jahres aufflog, wurde Schulten eilig in den Ruhestand versetzt.
Bei anderen Billigkassen von einst ist die Lage kaum besser. Der BKK-Bundesverband hat mittlerweile ein knappes Dutzend Betriebskrankenkassen identifiziert, die in schweren Geldnöten stecken, vornweg die BKK für Heilberufe, die BKK Mobil Oil (738 000 Mitglieder), die mhplus (261 000 Mitglieder), die Novitas Vereinigte (262 000 Mitglieder) und die Taunus-BKK (631 000 Mitglieder). Mit niedrigen Beitragssätzen hatten sie jahrelang gezielt um junge Gutverdiener gebuhlt - und dabei offenbar vergessen, dass auch Aufsteiger krank werden oder ihren Job verlieren können.
Auch die Zahlungsverpflichtungen in den Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung wurden von den Managern regelmäßig unterschätzt. Etwa ein Drittel ihrer gesamten Beitragseinnahmen mussten die Kassen an jene Konkurrenten abführen, die anders als sie überdurchschnittlich viele Arme und Alte versorgen.
Weil diese Rechnungen aber in der Regel erst mit monatelanger Verspätung eintrafen, wähnten sich die Verantwortlichen, von denen sich manche gern ihr Firmenlogo in den gestärkten Hemdkragen sticken ließen, reicher, als sie tatsächlich waren. "Bei den guten Haushaltszahlen", weiß BKK-Verbandschef Wolfgang Schmeinck, habe es sich in Wahrheit "um Scheinliquidität gehandelt".
Aus Angst vor einem Imageschaden wäre es den Spitzenfunktionären auf Bundesebene am liebsten, die maroden Betriebskrankenkassen möglichst geräuschlos zu entschulden. Alle BKK, die noch zahlungsfähig sind, sollen, so hat es der Bundesverband per Satzungsänderung beschlossen, ein Sonderopfer leisten und für künftige Krisenfälle in einen Sicherungsfonds einzahlen.
Doch so viel Solidarität geht vielen Managern zu weit. "Nachdem uns die Billigkassen mit künstlich niedrigen Beitragssätzen jahrelang unter Druck gesetzt haben", sagt Bertelsmann-BKK-Chef Wolfgang Diembeck, "sehen wir nicht ein, jetzt auch noch deren Schulden zu begleichen."
Vergangenen Freitag traf sich Diembeck mit 20 Kollegen in Solingen. Die Spitzenmanager, darunter die Bosse von BKK Gildemeister, BKK Dr. Oetker und BKK Krups/Zwilling, kamen überein, das Sorgenkind fallen zu lassen: "Die BKK für Heilberufe", so Diembeck, "bekommt von uns keinen Cent."
Bestärkt fühlt er sich durch ein 39 Seiten starkes Rechtsgutachten einer Hamburger Großkanzlei. Die BKK für Heilberufe habe allein schon mit der Aufnahme langfristiger Kredite "gegen Treu und Glauben verstoßen", urteilen die Juristen.
Den staatlichen Kontrollinstanzen wird dabei ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: "Das Bundesversicherungsamt hätte die ihm zur Verfügung stehenden Aufsichtsbefugnisse einsetzen müssen, um eine unverzügliche Rückführung der Darlehen durchzusetzen."
Zum ersten Mal würde mit der BKK für Heilberufe ein gesetzlicher Krankenversicherer, immerhin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, den Offenbarungseid leisten. Tausende Ärzte und Apotheker, aber auch Krankenhäuser blieben danach auf unbezahlten Rechnungen, Banken auf geplatzten Krediten sitzen.
Für die Funktionäre des BKK-Bundesverbands wäre eine solche Entwicklung fatal. Sie würden lieber die anderen Versicherungen belasten - und damit womöglich selbst gesunde Kassen in den Ruin treiben.
So haben zehn kleinere Betriebskrankenkassen in Ostwestfalen bereits ausgerechnet, dass sie für die Entschuldung der BKK für Heilberufe zusammen 75 Millionen Euro aufbringen müssten - etwa ein Viertel ihrer derzeit verfügbaren Jahresetats. Um das Geld zu beschaffen, müssten sie entweder die Beiträge ihrer Mitglieder drastisch erhöhen und sie damit zur Konkurrenz treiben oder selbst Schulden aufnehmen.
Für einen dritten Ausweg hat sich vor zwei Wochen die für 70 000 Mitglieder sorgende BKK von Airbus entschieden. Das Unternehmen ist zwar kerngesund, doch aus Angst vor einer möglichen Mithaftung für überschuldete Billigkassen will sich die Versicherung kurzerhand auflösen.